Die Leiter
Wie wir eigentlich wissen, ist die wirkliche Welt nicht die, die wir sehen. Schon die einfachsten Dinge entziehen sich unserer direkten Anschauung. Das, was wir sehen, ist ein
Modell von der Welt, eine Simulation, die in unserem Gehirn stattfindet. Damit müssen wir uns zufrieden geben, einfach deshalb, weil wir gar keine andere Wahl haben. Dennoch
habe ich, und sicher noch viele andere Menschen, das Bedürfnis, hinter den Rand dieser Simulation zu schauen. Ein Mittel dazu ist die Kunst, ein anderes die Wissenschaft.
Die für uns erreichbare Materie, wir selbst und schließlich auch die für uns (noch) unerreichbare Materie wie die Rückseite des Mondes besteht aus sogenannten Atomen, kleinsten
Teilchen (die moderne Physik ist hier detaillierter), die wir nicht wahrnehmen können. Unser Auge nimmt gerade mal die Hautoberfläche wahr, ihre Farbe, die Poren, Härchen und
Sommersprossen. Mit Hilfe des Mikroskops, einem Verstärker für das Sehen, können wir bis zu den Zellen vordringen. Bereits hier wird die Welt für uns abstrakt. Wir alle kennen
die Bilder von Körperzellen, aber kaum jemals haben wir unsere eigenen Zellen mit eigenen Augen gesehen.
Aber schlimmer steht es mit den noch kleineren Teilchen. Denn es gibt eine offensichtliche Grenze: Wenn die zu beobachtenden Teile kleiner werden als das Licht, mit dem wir sie
beobachten, ist keine anschauliche Betrachtung mehr möglich. Das wäre etwa so, als wollten wir mit einem Schmetterlingsnetz Bakterien fangen. Die Wissenschaft behilft sich dann
mit speziellen Apparaten, z.B. dem Elektronenmikroskop oder gar den Teilchenbeschleunigern. Diese liefern sehr präzise Aussagen, die aber wiederum aus Spuren von Partikeln
erschlossen werden, nachdem diese mit gewaltigem Aufwand zerstört wurden. Mit Sehen hat das nichts mehr gemein - in dieser Welt der Atome gibt es nichts, das mit den üblichen
Begriffen des Sehens erfassbar wäre, keine Oberfläche, keine Struktur, keine Farbe. Dafür gewinnen sie neue Eigenschaften, die keine anschauliche Entsprechung haben, wie Spin,
oder gar negative Masse.
Stanislav Lem hat in Summa Technologiae, 1964 (S. 293) den Vergleich mit einer Leiter verwendet, mit deren Hilfe die Physik die Welt ergründet:"Es gibt heute nur
wenige Physiker, die der Ansicht sind, daß zwischen der Mathematik und der Welt eine »Doppelgänger« oder »Abbild«-Beziehung besteht." … "Sie wird nicht mehr als ein getreues
Abbild, als eine bewegliche Fotografie des Phänomens aufgefaßt. Sie gleicht eher der Leiter, mit der man auf den Berg steigen kann, obwohl sie dem Berg durchaus nicht ähnlich
ist. Bleiben wir einen Augenblick bei diesem Berg. Aus der Fotografie kann man unter Hinzuziehung eines geeigneten Maßstabs die Höhe des Berges, die Neigung des Hanges usw.
ablesen. Die Leiter kann uns manches über den Berg verraten, an den wir sie anstellen. Doch wäre es sinnlos zu fragen, was an dem Berg den Stufen der Leiter entspricht. Sie
dienen dazu, auf den Gipfel zu gelangen. Genausowenig kann man fragen, ob die Leiter »wahr« ist. Sie kann höchstens ein mehr oder weniger geeignetes Instrument sein, um das
Ziel zu erreichen.
Dasselbe kann man aber eigentlich auch von der Fotografie sagen. Sie scheint ein getreues Abbild des Berges zu sein; untersuchen wir sie jedoch mit Hilfe immer stärkerer
Vergrößerungsgläser, so lösen sich die Einzelheiten des Berghanges schließlich auf in die schwarzen Pünktchen der Körner der fotografischen Emulsion. Die Körner wiederum setzen
sich aus Molekülen von Silberbromid zusammen. Gibt es nun etwas an dem Berghang, das den einzelnen Molekülen entspricht? Das ist nicht der Fall. Die Frage, wo innerhalb des
Atomkerns die Länge »steckt«, ist gleichbedeutend mit der Frage, wo der Berg »steckt«, wenn wir die Fotografie durch ein Mikroskop betrachten. Die Fotografie ist wahr, gibt ein
wahres Abbild, wenn wir sie als ganze betrachten, und genauso, als ganze betrachtet, wird eine Theorie (zum Beispiel über die Quanten) wahr sein, welche eine bessere Vorhersage
über die Entstehung der Baryonen und Leptonen ermöglicht und außerdem erklärt, welche Teilchen noch möglich sind und welche nicht.
Mancher wird auf solchen Thesen mit der betrübten Feststellung reagieren, die Natur sei unerkennbar. Aber das ist ein schreckliches Mißverständnis. Wer das sagt, hofft
insgeheim, am Ende werde sich »trotz allem» herausstellen, daß die Mesonen und Neutronen so etwas ähnliches wie sehr, aber wirklich sehr winzige Tröpfchen oder
Pingpong-Bällchen sind. Sie würden sich demnach wie Billardkugeln, das heißt entsprechend der klassischen Mechanik verhalten. Ich gebe zu, daß mich die »Pinghongizität« der
Mesonen mehr überraschen würde als die Tatsache, daß sie mit nichts, was uns aus der alltäglichen Erfahrung bekannt ist, vergleichbar sind. Sollte uns eine noch nicht
existierende Theorie der Nukleonen eines Tages gestatten, etwa die stellaren Veränderungsprozesse zu steuern, so wären wir, wie ich glaube, damit reichlich für die
»Merkwürdigkeit« eben dieser Nukleonen entschädigt, die nichts anderes bedeutet, als daß wir uns von ihnen keine einleuchtende Vorstellung machen können."
Die Leiter wird also an den Berg gestellt. In der Physik wäre diese Leiter gleichbedeutend mit der Mathematik. Wir klettern die Mathematik hinauf, gelangen an den Gipfel. Dann
können wir zum Beipiel die Sprossen zählen und wissen, wie hoch der Berg ist. Wie der Berg tatsächlich aussieht, können wir daraus nicht erfahren - und das ist auch nicht das
Ziel des Physikers. Er möchte durch nachvollziehbare Messung zu einem eindeutigen Ergebnis gelangen, das es ermöglicht, Vorhersagen zu treffen.
In dem Beispiel wird auch die Fotografie genannt - ein Medium, das sowohl in der Wissenschaft, als auch in der Kunst heimisch ist, was man von der Mathematik leider nicht sagen
kann. Das soll nicht heißen, daß es in der Mathematik nicht auch künstlerische Aspekte gibt. Doch deren Deutung und Würdigung bleibt nur Wenigen vergönnt. Immerhin
vagabuntieren immer wieder mal mathematische Konzepte wie der Goldene Schnitt oder Fibonaccis Zahlenreihe durch die Kunstwelt. Aber Fotografie kann immerhin jeder ohne
Vorkenntnisse sehen. Und was zeigt uns das Foto? Wie oben erwähnt, zeigen sich auf Fotos auch materialbedingte Dinge, wie das Silberkorn (naja, bei älterer Fototechnik),
Pixelfehler, Objektivunschärfen, Aufnahmeautomatik-Effekte, Farbverfälschungen (aus Weißabgleich, Digitalkorrektur, Alterung, Druckfarbeneigenschaften). Alle diese Dinge
stammen nicht aus dem abzubildenden Motiv, sondern sie sagen auch etwas über das Medium selbst aus. Aus dem ursprünglichen Bedürfnis heraus, die Natur auf schnelle, einfache
Art abzubilden, anstatt sie beispielsweise mühsam abzumalen, entstehen durch Nebeneffekte neue, so nie gesehene und auch nicht auf andere Weise darstellbare Objekte. Es sind
nicht Bilder im Sinne von Abbildungen, sondern es sind eigenständige Objekte.
Und genau dies ist für die künstlerische Arbeitsweise interessant: etwas zu zeigen, das noch nicht da war. Damit wird weder ein Vorhersage gemacht, noch etwas erklärt, noch
kommt der Betrachter in Zukunft besser mit der Welt zurecht. Es wird einfach ein neues Stück Welt vorgeführt, das es vorher noch nicht gegeben hat. Carolyn Krüger |